Zuckerpuppen - Leseprobe

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Leseprobe Zuckerpuppen
Sommerfrische.
Für mich ein Wort, das ich schmecken kann.
Das auf der Zunge zergeht wie Schmetterling, Stoppelfeld, Zehnpfennigkugelvanilleeis.
Geschmäcker, Gerüche und der leise Hauch eines Bilder­buchsommers, wie man ihn nur als Kind erfährt.
Es war Mutter, aus deren Mund ich das Wort so gern hörte. Ihre Eltern besaßen ein Stück Land bei Berlin. Zu­gang war nur auf dem Wasserweg möglich. Am Grund­stücksende, unweit des altersschwachen Kletterkirschbaums, stand ein winziges Holzhaus, manchmal hellblau gestrichen, der weiße Giebel geschnitzt wie aus Spitzen - Handwerks­arbeit allerfeinster Tradition. Auf dem Grasplatz davor weiße Korbmöbel.
Sommerfrische. So stand es geschrieben.
Bei Mutter im Gästezimmer hängt ein gerahmtes Foto. Beim Betrachten tauche ich ein in eine andere Zeit. Ich wollte immer schon haarklein wissen, wie es damals war. Und Mutter erzählte bereitwillig die unabänderlich gleiche Geschichte - ein Märchen aus Kinderzeit ganz ohne Happy End.

An Wochenenden und Festtagen zwischen Frühling und Spätherbst war Sommerfrische Treffpunkt für Verwandte und Freunde, die jederzeit willkommen waren. Kaum er­tönte ihr Rufen vom anderen Ufer, schon machte man sich auf. Der am Holzpflock vertäute Kahn wurde losgebunden, die Lieben eingeholt und über den Fluss geschippert.
Die Kinder lernten schwimmen, als das Boot einmal auf halber Strecke kenterte. Von da an durften sie sich unbeauf­sichtigt auf dem Wasser tummeln.
Onkel und Tanten brachten einen Kuchen oder andere leibliche Genüsse. Von noch größerer Bedeutung war - sie brachten ihre Hände, denn Obstbäume und Beerensträucher standen in Reihe und Glied.
Die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen. Mutters leiser Seufzer, wenn sie vom fortgesetzten Pflücken, Säubern und Einmachen der verschwenderisch reichen Ernte sprach, gehörte zu ihrer Erzählung wie die verblichene Schwarzweiß-Aufnahme an der Wand.

Gelegentlich kam Onkel Paul zu Besuch, um von morgens bis abends beängstigend erfolgreich zu angeln. Töten konnte er nicht, das war Aufgabe der Kinder. Auf dem Küchentisch schnitten sie den kleinen, zappelnden Flussfischen mir nichts dir nichts die Köpfe ab.
Großmutter briet sie und wollte gelobt sein.
"Wie schmeckt’s dir denn, Paul?"
"Der Hunger treibt’s rein!"

Für die Kinder von damals waren Haus und Grundstück schiere Last, die sie vom Baden und Spielen abhielt. Später, als sie erwachsen wurden, bot sich keine Möglichkeit mehr, ihre Sommerfrische schätzen und lieben zu lernen.
Es war Krieg.
Der Bruder kam um.
Was blieb, war die Erinnerung.

Erinnerungen an eine Sommerfrische habe ich mehr als genug.
Eigene Erinnerungen.
Gute und schlechte.
Damals dachten wir nur an gute - damals ahnten wir noch nichts Böses. Das glückliche Ende schien jedes Jahr vorbe­stimmt. Es sollte ein märchenhafter Urlaub werden. Wie schon zuvor in vergangenen Jahren.
Es war einmal ...
Dabei fangen auch Märchen meist gar nicht gut an.
Aber Hauptsache Ende gut - alles gut.
Doch die Vorzeichen dafür standen schlecht.

 

EINS

Ich hatte nicht darum gebeten.
Meine Erinnerung an einen fernen Sommer in den Bergen wird heute morgen unvermutet aufgefrischt.
Sanne hat Ferien und die Post hereingeholt.
Ich spüre, wie sie zögert, und wende mich um. Zwischen uns, doppelt verschnürt, liegt der Karton mit den fremden Marken. Mein Name steht drauf.
Ich habe die Hände im Spülwasser. Trotzdem weigert sie sich, das Päckchen für mich zu öffnen. Nach einem zweiten Blick auf den Absender schüttelt sie abwehrend den Kopf, zurrt ihr Haargummi fest, läuft die Treppe hinauf in ihr Zimmer.
Schließt deutlich hörbar die Türe.
Unwillig trockne ich die Hände, zerschneide die Schnüre.

Seidenpapier knistert unter meinen Fingern, leuchtet rein wie frisch gefallener Schnee. Ein Umschlag liegt mit in der Schachtel - Kartengruß des Hauses und Dank für den Feriengast, den wir einmal empfohlen haben.
Ein feuchter Film legt sich auf meine bloßen Arme, ich spüre, wie mir der Schweiß ausbricht. Ich will es schnell hinter mich bringen, reiße die schützende Umhüllung auf, hebe den Inhalt sorgsam heraus.
Nun liegt es auf meiner flachen Hand - das Geschenk des Hotels.
Die Kuppel ist eine drückende Last. Dickes Glas wölbt sich über dem Raum, in dem sich ein einzelnes Haus befin­det. Zögernd bringe ich die gläserne Zelle in Augenhöhe. Mein Herz macht einen Sprung.
Geborgen in der Form ruht der Scheunenhof.
Wetterabweisend und Zuflucht bietend breitet das schie­fer­gedeckte Dach seine Fittiche über Balkone und Außen­mauern - scheint allzeit gerüstet für die Schneemassen künftiger Winter.
Der Scheunenhof war mein Lieblingshotel.
Abbild und Wirklichkeit gleichen sich.
Rund ums Haus Blumen.
Hängende Blütenwunder in den Kästen der Balkon­brüstung.

Ich trage die Schneekugel hinauf in mein Reich, spüre das glatte Glas in der Hand, fahre die Wölbung mit dem Finger nach, schließe die Augen und tauche ein in eine andere Zeit.
Mein Herz fängt unkontrolliert an zu pochen.
Tränen des Schmerzes drängen heraus.
Bis dahin kamen wir jedes Jahr - waren dort glücklich.
Bis das Unfassbare geschah.
Mit der einen, die dachte, sie könne die Puppen tanzen lassen. Die die Gunst der Stunde zu nutzen verstand.
Und mit der anderen, die die Gefahr nicht witterte. Die sich ahnungslos selbst eine Falle stellte.
Die hineintappte.

Wir waren allesamt gute Freunde, die herauswollten.
Heraus aus dem unerträglich heißen Sommer der Ebenen.
Hinein in die luftigen Höhen der Berge.
Wo man wieder schlafen konnte. Ruhe und Erholung fand.
Damals.
Nach den Ereignissen gab es ein Gesetz. Eins, das nie jemand niederschrieb: Wir sprachen einfach nicht mehr darüber. Versuchten, was passiert war, aus dem Gedächtnis zu streichen. Und doch - es ist geschehen. An demselben Ort, den ich jetzt in den Händen halte.
Ich kann nicht widerstehen, meine Finger fassen und kip­pen die gläserne Halbkugel.
Die Welt steht Kopf.
Dichtes Schneegestöber aus wirbelnden Flocken. Sacht breitet sich ein flimmerndes Leintuch aus. Deckt lautlos alles zu.
Mitten im Sommer.
Es ist wie damals. Allein - die Kuppel war ein gläserner Sarg. Ich versinke in Erinnerungen, spüre das Grauen so frisch, als sei alles erst gestern passiert.

Mit einem Sarg fing der Urlaub an.
Vor dem Hotel - genau an der Stelle, wo heute noch die weiß lackierten, in Betonringe eingelassenen Stangen ste­hen, mit den weißen Kettengliedern dazwischen und dem breiten Durchgang für Fußgänger - genau dort wurde eine längliche Kiste transportiert.
Zu dem dezent lackierten Kastenwagen, der mit geöffneten Hecktüren bereitstand und den Haupteingang zum Hotel blockierte.
Grüppchen von Hausgästen standen in der Nähe, lauerten, wisperten, rührten sich nicht vom Fleck.
Anzüge korrekt wie Uniformen, die Männer darin kannten sich aus. Flüssig, ruhig, tatkräftig luden sie das auffällige Behältnis in das wartende Auto, schlossen die Flügeltüren und fuhren in engem Bogen über den nahegelegenen Hotel­parkplatz auf die Durchgangsstraße.

Später hätte ich nicht sagen können, wie lange alles dauerte. Es ging rasch, und doch prägte die Szene sich wie in Zeit­lupe ein: der Sarg, die bedächtigen Bewegungen, die düstere Innenverkleidung des Kastenwagens, die sich dumpf tönend schließenden Türen. Bilder und Gesten blieben auf der Netzhaut, sollten tief ins Bewusstsein dringen, auch wenn ich mir sagte, das alles ging mich nichts an.

Das war der Tag der Anreise in unsere langjährige Sommer­frische im Hochgebirge, zu der wir wohl niemals zurück­kehren werden. So wie Mutter kaum jemals zu ihrer zurückkehren wird, wenn auch aus anderen Gründen.

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