Die Efeufrau - Leseprobe
Endlich
wurde die Tür zum Nebenraum aufgedrückt, ein Beamter mittleren
Alters reichte ihnen die Hand. Untersetzt von Statur, aber keineswegs
fett, eher muskelbepackt, die kurzen Oberschenkel sprengten beinahe die
Hosenbeine. Grübchen im Kinn, die grauen Haare militärisch
kurz geschoren. Nein, keinesfalls die fürsorgliche Vaterfigur, wie
Eva sie sich gewünscht hätte. Andererseits aber auch kein Anzeichen
eines Bluthundes, das wäre ihr bestimmt nicht entgangen. Evas verschwitzte
Handflächen schien er nicht wahrzunehmen, behende umrundete er den
hochbeinigen Schreibtisch, beugte sich vor und klickte Vorgänge
im Computer an, die Nina und sie nicht einsehen konnten. Klick, klick,
klick - als Personen schienen sie ihn nicht zu interessieren, sein Augenmerk
galt dem Bildschirm, sein zielstrebiges Gebaren hieß sie weiter
schweigen. Er schob einen niedrigen Stapel Papier in den Drucker, das
grüne Licht ging an, doch die Maschine blieb still.
"Sie haben
heute Morgen angerufen?"
Er setzte sich hin und verschränkte
die Hände über der
Gürtelschnalle. Ein flüchtiger Blick aus hellen Augen streifte
Mutter und Tochter, fiel dann auf den unter einen Locher geklemmten,
gelben Zettel. Er zog ihn heraus.
"Wie es aussieht, geht es um
eine Vermisstenmeldung? Ihr Mann wandert und hat sich seit ...",
seine Augen suchten die Notiz zu entziffern, "seit ein paar Tagen
nicht gemeldet?"
"Seit acht Tagen, ja ...", setzte
Eva an, er aber unterbrach sie.
"Augenblick noch, bitte, Frau ..."
Der Name war wohl ebenfalls
unleserlich, er runzelte die niedrige Stirn.
"Zunächst einmal
brauchen wir ein paar Angaben zur Person. Ihr Mann, wie heißt
er, und wann ist er geboren?"
"Ernst Brandner", gab Eva
an und spürt den aufgeregten
Pulsschlag in Mutters Knie, an das sie den Kopf gelehnt hat. Mutters
angestrengte Stimme, die Suchmeldung nach dem Krieg. Eva hört
sie den Namen Georg hervorpressen, der ihr Vater war und vermisst
wurde. Der einen Teil von ihr mitgenommen und bewahrt hat, als er wegblieb.
Seither fehlt ihr etwas, sie ist nicht komplett, hätte der Mann
sonst das Wort Halbwaise in den Mund genommen, das ähnlich
verstörend klang wie der Flüchtling?
Viel später
hat Eva im Lexikon nachgelesen, dass eine Waise nicht zwingend das
Letzte und Wertlose ist. Der Begriff Waise konnte
ebenso gut dem heutigen Solitär entsprechen. Oder dem Stein
der Weisen, beide stellten das Eine, ganz Besondere dar. So, wie
sie es verstand, waren Waise wie Stein etwas sowohl Wertloses als auch
Wertvolles - ein Gegensatzpaar, das Eva vertraut war. Hatte sie nicht
oft das Gefühl gehabt, entweder das Letzte oder das Erste zu sein?
Der Riesenkloß im Hals, wem eigentlich galt er, musste Eva sich
fragen, war es doch lange her, dass ihr Vater sie beide so elend im Stich
gelassen hatte. Aber sie würde so wenig weinen wie ihre Mutter
auf dem Stuhl vor dem Schubladentisch in der Amtsstube, sie hatte Dringenderes
zu tun.
"B-r-a-n-d-n-e-r." Eva ertappte sich, wie sie, wie
ihre Mutter damals, mit belegter Stimme ihren Nachnamen buchstabierte. "Geboren
1950, am 30. Februar."
Das Datum klang fremd, sie stutzte, verbesserte
sich: "Was sage
ich denn! Dreißigster, das ist korrekt, aber Januar natürlich." Seine
Finger blieben über der Tastatur in der Schwebe, er sah sie abwartend
an. Schuldbewusst senkte sie den Blick auf die Hände, dachte angestrengt
nach. "30. Januar 1950", nickte sie dann, schob nach kurzem
Zögern ein bekräftigendes "definitiv" hinterher. "Tut
mir leid, aber Zahlen und Daten ... damit habe ich es nicht so."
"Und
sein Beruf?" Er räusperte sich.
"Lehrer", gab
Eva zur Antwort. "Oberstudienrat am
Richard-Wagner-Gymnasium in Baden-Baden."
Der Beamte gab es ein.
"Zirka einsneunzig groß", -
auf den Zentimeter genau wusste Eva es nicht, sie musste schätzen
- "er hat eine Narbe
auf der rechten Stirnseite."
Er hörte auf zu tippen und sah
sie an.
"Andere hervorstechende Merkmale?"
Eva zögerte. "Eigentlich
nicht ... oder vielleicht doch, ich weiß nicht, ob es von Bedeutung
ist: Bevor er losging, hat er den Bart abrasiert. Er wird einen Stoppelbart
haben - mit grauen Stellen darin."
Während er tippte und ab und zu klick, klick, klick machte, fragte
sie sich, wie er sie wohl sah.
Vor ihm, die Füße artig gekreuzt,
saß eine Frau mittleren
Alters - die Augen besorgt, aber weder zu klein noch zu groß.
Nase nicht unbedingt gerade, aber auch nicht krumm. Durchschnitt bis
auf den ausgeprägten Mund, wie beim Vater liefen die Gipfel der
Oberlippe ungewöhnlich spitz zu. Für den Termin heute hatte
sie die Spitzen mit hautfarbener Grundierung gemildert und einen kräftig
rosa Lippenstift kurvig aufgetragen. Jetzt saß sie mit artig
gebogener Oberlippe, Mittelmaßmutter eines ungelenken Teenagers,
der seine Unsicherheit hinter einer mürrischen Miene zu verbergen
suchte - und dies hier war keinesfalls ein Spiel! Ab sofort steckten
sie mit Rang und Namen in der Kartei des Kriminalamtes, vermutlich
bundesweit.
Eva setzte sich aufrecht. Sorgfältig schloss sie die
dunkelblaue Leinenjacke über der munteren Blütenpracht ihres
sommerlichen Tops, als wolle sie sich für weitaus intimere Fragen
wappnen. Die würden kommen, unausweichlich, denn dazu war sie
da.
Der Polizist löste die strammen Unterarme von der Schreibunterlage.
Er schob seinen Drehstuhl zurück, tat einen Schwenk in ihre Richtung,
setzte beide Füße auf das Rollengestell. Sein ausdrucksloser
Blick wanderte von ihr zu Nina und zurück.
"Ihr Mann, Frau
Brandner, wohin wollte er? Und ist jemand bei ihm?"
"Niemand,
nein, er ist allein unterwegs." Eva wich seinem
Blick nicht aus. "Endpunkt der Wanderung sollte Venedig sein."
"So,
so, Venedig. Ganz schönes Stück." Der Beamte
kaute auf seiner Unterlippe. "Und die Wanderstrecke - ist Ihnen
die geläufig?"
"Schwarzwald, Bodensee, Alpen, Gardasee,
Verona, Venedig."
Evas Hand fuhr wie von selbst zur Handtasche.
Ernsts ausgeklügelten
Wanderplan trug sie bei sich.
"Nein, nein, lassen Sie nur!" Abwehrend
hob er die Hand. "Was
hatte Ihr Mann an, trug er spezielle Wanderkleidung, als er das Haus
verließ?"
"Nein, bis auf die Wanderschuhe hatte er
ganz alltägliche
Sachen an. Roter Baumwollpulli mit Rollkragen ... dazu blaue Jeans mit
Gürtel - dunkelbraun, glaube ich." Eva schluckte schwer. Sie
beschrieb den knallroten Trekkingrucksack, sprach von den in Schlaufen
hängenden Aluminiumflaschen für den täglichen Wasservorrat
und mehr und sah an ihm vorbei aus dem Fenster. "Der Rucksack ist
ziemlich schwer, weil er immer sein Zelt dabei hat."
"Was
wiegt er denn so, haben Sie eine Ahnung?"
"So um die zweiundzwanzig
Kilo", gab Eva zur Antwort und
sah Ernst zuerst ohne, dann mit Rucksack die Personenwaage besteigen.
"Ist
er häufig allein unterwegs?"
"Erst in den letzten Jahren
...", Herr Kommissar lag
ihr auf der Zunge, aber das Schildchen, es fehlte, nichts deutete auf
seinen Dienstgrad hin, "... erst seit er regelmäßig
wandert."
Sie holte tief Luft.
"Er geht allein, damit er sein Tempo selbst
bestimmen kann."
Und weil er nicht reden will , fügte
sie im Geiste hinzu, jedenfalls
nicht mit mir.
"So, so." Sein gespaltenes Kinn hob
sich, er wiederholte wie zu sich selbst: "Hm, ja, er geht also
gern allein. Und der Zeitraum seiner Abwesenheit, war der vorher genau
festgelegt?"
"Haargenau. Mein Mann druckte aus, an welchem
Wochentag er sich wo befinden wollte. Reliefkarte und Zeitplan, ich
kann sie Ihnen zeigen. Schon seine erste Wanderung kam auf den Tag
genau hin. Nina ..." Eva
wandte sich ihrer Tochter zu, konnte deren Blick aber nicht einfangen, "Nina
hat damals täglich Fähnchen gesteckt, und als er das erste
Mal anrief, stimmten sie in jedem Punkt mit seinem Streckenplan überein.
Mein Mann ist auf die Stunde genau im Urlaubshotel eingetroffen."
Abgemagert,
durchtrainiert und sexuell ausgehungert. Eva ertappte
sich, wie sie auf den gebräunten Hals ihres stämmigen Gegenübers
starrte. Wie eine römische Säule ragte er aus dem weit geöffneten
Hemdkragen. Sie errötete, als sie seinem aufmerksamen Blick begegnete.
Rasch senkte sie die Augen auf ihre fest verschränkten Hände.
...
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